Der letzte Gottesdienst

Am Sonntagnachmittag diente Apostel Gerald Bimberg der Gemeinde Oederan. Dieses Mal war es kein freudiger Anlass, denn es sollte der letzte Gottesdienst am Ort sein. Alle Amtsträger wurden in den wohlverdienten Ruhestand versetzt.

Mein Erleben während des letzten Gottesdienstes in der Gemeinde Oederan:

Es ist Sonntagnachmittag. Ich bin zum Gottesdienst, den unser Apostel Bimberg halten wird, in die Gemeinde Oederan eingeladen.

Ich kann nicht zählen, wie oft ich hier schon Gottesdienste erlebt habe. Bereits als Jugendlicher bin ich vor rund 40 Jahren oft mit dem damaligen Bezirkschor als Chorsänger hierhergekommen, wenn ein Apostel diente. Später wurde ich hin und wieder als Priester beauftragt, den hiesigen Vorsteher zu unterstützen. Ach ja – hier war es auch, wo ich vor 31 Jahren bei einem Jugendtreffen meine spätere Frau kennengelernt habe.

Aber heute ist alles anders. Es wird nach 65 Jahren der letzte Gottesdienst für die Geschwister an diesem Ort sein. Außerdem sollen alle Amtsbrüder der Gemeinde in den Ruhestand versetzt werden – der Vorsteher und die beiden Diakone. Alle drei gehörten früher zur Gemeinde Flöha, die bereits 1996 mit Oederan zusammengelegt wurde.

Schweren Herzens betrete ich die Kirche. Im Foyer begrüßt mich einer der Diakone. Ernst schaut er mich an. 35 Jahre hat er dem Herrn gedient. Heute ist es sein letzter Türdienst.

Freudig begrüßt mich der Vorsteher. Aber ich weiß, er hat ein lachendes und ein weinendes Auge, wenn er an seine Glaubensgeschwister denkt. 12 Jahre lang wirkte er als Vorsteher in Flöha und anschließend 16 Jahre in Oederan. Mit Leib und Seele hat er sich aufgeopfert. Heute beginnt für ihn ein neuer Abschnitt – der Ruhestand. Seine Gemeinde aber wird es danach nicht mehr geben.

Nun sitze ich in der Bankreihe und lausche dem Orgelspiel des zweiten Diakons. 47 Jahre hat er dem lieben Gott segensreich gedient, vorrangig als Dirigent und Harmoniumspieler. Nun bereitet er zum letzten Mal die Gemeinde auf den Gottesdienst vor. Noch einmal erklingen seine Lieblingslieder, die ich schon oft bei meinen Besuchen gehört habe – Heimatlieder, auch ein Männerchorlied ist darunter. Man sieht ihm an, dass es ihm schwer ums Herz ist. Einige Male rückt er zur Seite, um Platz für die Vorträge der Instrumentalisten zu machen, darunter die drei erwachsenen Kinder des Vorstehers.

Meine Schwestern und Brüder aus Oederan werden ihre neuen Gemeinden in Freiberg und Chemnitz finden. Wie wird es in ihren Herzen aussehen? Ich versuche mich in ihre Gefühle hineinzuversetzen.

Viele der Geschwister sind hochbetagt. Manche haben während des 2. Weltkrieges erlebt, wie es ist, ihre Heimat und ihre damalige Kirchgemeinde verlassen zu müssen. In unserer Region haben sie ein neues Zuhause gefunden. Dadurch sind blühende Gemeinden entstanden.

Oederan war schon immer ein Gottesdienstort, wo viele Geschwister weit verstreut im Umland wohnten. Somit waren sie auf öffentliche Verkehrsmittel oder eigene Fahrzeuge angewiesen. Manchen steht nun im Alter kein eigenes Fahrzeug mehr zur Verfügung. Wie soll es jetzt weitergehen?

Mir laufen Tränen über mein Gesicht. Ich lese die 3. Strophe des Eingangsliedes Nr. 213. Dort heißt es:

„Hoffnung gibt uns Mut zum Wandern, ist die Zukunft auch verhüllt, gibt uns Trost in allen Leiden, bis die Zeit sich hat erfüllt.“

Das ist schnell gesungen, jedoch gehört viel Glaube dazu, auch jetzt in einer solchen Situation.

Der Apostel beginnt den Gottesdienst. Er wird begleitet von den Bezirksältesten der Bezirke Dresden und Chemnitz sowie den zuständigen Bezirksevangelisten. Außerdem sind einige Amtsbrüder und Vorsteher der Nachbargemeinden gekommen.

Im Gebet des Apostels und den einleitenden Worten ist auch seine Traurigkeit darüber zu verspüren, dass die Gemeinde heute aufhört zu existieren. Gefühlvoll vermittelt er, dass es kein „Verwaltungsakt“ der Kirche ist, der strategisch vom Schreibtisch aus entschieden wurde. Schließlich geht es hier nicht nur um einen Kirchenraum, sondern um die Gemeinde des Herrn Jesu. Aber leider machen manche Entwicklungen in der heutigen Zeit solch einen Schritt unumgänglich.

Als Bibelwort verwendet der Apostel 1. Johannes, 3, 22:

„... und was wir bitten, werden wir von ihm empfangen, denn wir halten seine Gebote und tun, was vor ihm wohlgefällig ist.“

„Das Wort klingt zunächst utopisch“, so der Apostel, „wenn wir lesen ’... und was wir bitten, werden wir von ihm empfangen‘“. „Aber unser Glaubensverständnis sagt uns, es geht hier nicht um irdische Bitten“, verdeutlicht er den Inhalt des Wortes, „sondern dass unser Herz immer mehr wächst in der göttlichen Liebe und in der Tiefe des Glaubens durch den Heiligen Geist“.

Noch einmal dient der Vorsteher. Einem Vermächtnis gleich macht er Mut zum Beharren im Glauben und in der Hoffnung und dankt der Gemeinde.

Bezirksältester Gottwald aus Dresden bewegt in seinem Predigtbeitrag den Gedanken, dass manch einer sich ärgern könnte und sagen: „Ich habe mich so viele Jahre für die Gemeinde aufgeopfert. War nun alles vergebens, was wir in der langen Zeit getan haben?“ Nein! Hier können wir mit dem Liederdichter sagen „Nimmer vergeht, was du liebend getan hast.“

Anschließend macht der Apostel den Geschwistern noch einmal Mut für den Wechsel in ihre zukünftigen Gemeinden. Er habe dreimal auf Wunsch des Bezirksapostels einen neuen Arbeitsbereich übernommen, berichtet er von sich. Zuletzt ist er in den Bereich Sachsen gekommen. Hier kannte er niemanden und es war ihm sehr bang. Aber ihm ist viel Herzlichkeit begegnet. Inzwischen hat er die Brüder und Schwestern hier so lieb gewonnen, dass er sie nicht mehr missen möchte. Solch ein Erleben wünscht der Apostel auch den Geschwistern aus Oederan in ihren neuen Gemeinden.

Nach der Sündenvergebung und dem Heiligen Abendmahl kommt der Augenblick, an dem der Vorsteher mit seinen beiden Diakonen in den Ruhestand versetzt wird. Mit herzlichen Worten würdigt der Apostel das Wirken der Amtsträger. Er erwähnt, dass der Vorsteher 28 Jahre lang zu jedem Gottesdienst und Seelsorgebesuch von Chemnitz angereist ist. Das ergibt rund 200 Tausend Kilometer. – Voller Hochachtung blicke ich zu diesem Gottesknecht und seiner Familie auf.

Im Abschlussgebet entweiht der Apostel den Gottesdienstraum und gibt ihn frei für die zukünftige Nutzung.

Mit einem besonderen Schlusslied „Ich danke meinem Gott“ bringen Gemeinde, Chor und Instrumentalisten noch einmal gemeinsam dem großen Gott Ehre.

Der letzte Dank an den Vorsteher kommt von zwei Glaubensschwestern. Mit einigen gereimten Versen versuchen sie der Situation noch einen erheiternden Aspekt zu geben. Mit den Worten „… du hattest manche Nuss mit uns zu knacken“ überreichen sie einen erzgebirgischen Nussknacker. Trotzdem fließen Tränen, als sie ihren Vorsteher noch einmal umarmen.

Der Gottesdienst ist zu Ende. Immer noch berührt von dem Geschehen erhebe ich mich. In der letzten Bankreihe erblicke ich den vorherigen Vorsteher im Ruhestand. Wir verabschieden uns herzlich. Fast 25 Jahre (von 1971 bis 1996) hat er hier gewirkt. Hochbetagt und von Krankheit gezeichnet hat er es heute noch einmal geschafft, den letzten Gottesdienst seiner Gemeinde mitzuerleben. Auch an ihn sowie alle Amtsbrüder, die in der Vergangenheit an diesem Ort gewirkt haben, hat der Apostel Dankesworte gerichtet.

Ist nun alles zu Ende? Nein, ihr lieben Geschwister aus Oederan, ihr seid nicht verlassen. Gott ist für euch da – auch in der neuen Umgebung. Ich wünsche euch, dass ihr euch schnell wieder richtig wohlfühlt, denn es ist eine Gemeinde des Herrn Jesu. Da muss man sich doch wohlfühlen, oder?

M.W.